Das Volk als Feind der Politiker

Vorerst kein Mehr an direkter Demokratie

Anträge zu Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid abgelehnt

Das Thema der direkten Demokratie, der unmittelbaren Beteiligung des Wahlvolkes an politischen Entscheidungen, war am Donnerstag, dem 23. April 2009, Gegenstand einer 45-minütigen Debatte im Deutschen Bundestag. Gesetzentwürfe der drei Oppositionsfraktionen, in denen gefordert wird, die Volksinitiative, das Volksbegehren und den Volksentscheid in das Grundgesetz aufzunehmen, lehnte die Koalitionsmehrheit von CDU/CSU und SPD ab [mehr]

Deutscher Bundestag • Stenografischer Bericht • 217. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 23. April 2009

Ingo Wellenreuther CDU/CSU (Ab Seite 23572)

ingo-wellenreuther-cdu-copy-dbt-stiebritzSehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im kommenden Monat feiern wir den 60. Jahrestag unseres Grundgesetzes. Es hat unserem Land 60 Jahre lang Stabilität, Frieden und Freiheit gegeben. Dieser Umstand sollte eigentlich Anlass für uns alle sein, ein Loblied auf die parlamentarische Demokratie zu singen, anstatt heute eine verfassungsrechtliche und politische Grundsatzdebatte darüber zu führen, ob unsere repräsentative Demokratie überholt ist.
Die Befürworter von Plebisziten tun gerade so, als sei unsere parlamentarisch-repräsentative Demokratie eine minderwertige Form der Demokratie, ein geschichtliches Versehen, das endlich korrigiert werden muss.
Es wird suggeriert, die Einführung von Volksentscheiden sei ein Allheilmittel gegen Politikverdrossenheit. Es wird behauptet, nur durch die direkte Demokratie könne das bürgerschaftliche Engagement gestärkt werden und könnten die Wähler wieder an die Wahlurnen zurückgeholt werden. Dieser Auffassung ist die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausdrücklich nicht. Deshalb halte ich, meine sehr geehrten Damen und Herren, keinen Zeitpunkt für geeigneter, die Anträge der Opposition abzulehnen, als diesen, kurz vor dem 60. Jahrestag des Grundgesetzes. Es sprechen nämlich weiterhin gewichtige Gründe klar gegen Plebiszite auf Bundesebene und für eine Beibehaltung unserer parlamentarisch- repräsentativen Demokratie.

Erstens. Auch wenn Herr Kollege Wieland eine andere Einschätzung der Geschichte hat: Volksabstimmungen bergen die Gefahr des Missbrauchs und der politischen Destabilisierung. Schon in der Weimarer Zeit haben sie das Volk aufgewühlt und gespalten und das Vertrauen ins Parlament zusätzlich erschüttert. Im Nazireich wurden Volksabstimmungen missbraucht, um diktatorische Entscheidungen im Nachhinein zu legitimieren.

Zweitens können Volksabstimmungen den immer schwierigeren und komplexeren Fragestellungen unserer pluralistischen Welt nicht gerecht werden. Ein Volksentscheid ist ein primitives Verfahren, bei dem eine Frage mit Ja oder mit Nein zu beantworten ist. Im Gegensatz dazu ist unser bestehendes Gesetzgebungsverfahren ein lernendes Verfahren. Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es hineingekommen ist. Nach der ersten Lesung schließt sich eine intensive Behandlung in Ausschüssen an. Sachverständigenanhörungen und Expertengespräche sowie Berichterstattergespräche werden durchgeführt. Zudem wird eine Folgenabschätzung vorgenommen. Teilweise bewertet sogar ein extra eingerichtetes Gremium, der Normenkontrollrat nämlich, den entstehenden Zuwachs an Bürokratie. Das ist ein gründliches Verfahren, bei dem Kompromisse ausgehandelt werden zum Wohle der Allgemeinheit, aber auch zum Wohle von Minderheiten. Bei Volksentscheiden ist ein solch ausgewogenes, auf Kompromissbereitschaft basierendes Entscheidungsverfahren nicht möglich.

Drittens. Für besonders groß halte ich die Gefahr, dass wichtige Sachfragen nicht nach sachbezogenen Gesichtspunkten entschieden werden, sondern danach, welche Interessengruppe die bessere Lobbyarbeit macht, wie schlagwortartig Parolen unters Volk gejubelt werden oder wer welche Prominenten mit entsprechender Werbewirkung für seine Sache gewinnen kann. Die Folge wäre ein unsachlicher Abstimmungskampf, der auch noch die Gefahr der Manipulation in sich birgt.

Wie entstehen denn derzeit unsere Gesetze, Gesetzesvorhaben, Gesetzesentwürfe und Gesetzesänderungen? Etwa ohne Lobbyisten? Man braucht sich doch nur die entsprechenden, jeweiligen Stellungnahmen durchzulesen, dann weiß auch das Volk, wer unsere Gesetze bestimmt. Wie oft habe ich schon gelesen, das Vertreter großer Versicherungskonzerne zu Stellungnahmen in den jeweiligen Ausschüssen geladen werden, dergleichen passiert bei Finanzgesetzen. Wenn es um Reformen rund um das Familienrecht geht, dann ist stets der Bund deutscher Juristinnen vertreten. Persönlich fällt mir immer wieder Prof. Salgo auf, der sich in entsprechenden Ausschüssen stets darum bemüht, Vätern auch ja keine zusätzlichen Rechte zu gewähren.
Beim Thema Manipulation könnt ich glatt schon wieder die Wände hochgehen. Was betreibt denn unsere derzeitige KiPo.. äh.. Familienministerin, neuerdings auch Zensursula genannt? Ist es keine Manipulation, wenn man mit falschen Daten versucht, die Öffentlichkeit zu beeinflussen? Da werden Zahlen herbei fabuliert, das den meisten mit Sicherheit schlecht wird, aber als Wahlkampfthema läßt es sich „wunderbar“ mißbrauchen, um hinterücks Zensur einführen zu können! Welcher Bürger wird schon seine Zustimmung verweigern, wenn er von unermesslichen Vergewaltungen, auch und insbesondere von Babys und Kleinkindern liest? Da viele Menschen gerade diese Manipulation kaum durchschauen, wird die Anzahl der Befürworter m.E. größer als die der Gegner sein. Bevor ich mich weiter aufrege, lasse ich wieder „unseren Volksvertreter“ sprechen.

Viertens ist meines Erachtens nicht einzusehen, warum sich Parlamentarier ihrer Verantwortung entziehen und unpopuläre oder schwierige Entscheidungen dem Volk überlassen sollen. In jeder Legislaturperiode gibt es richtungsweisende Entscheidungen, für die man Politiker bzw. Parteien alle vier Jahre politisch zur Verantwortung ziehen kann. Diese Möglichkeit, alle vier Jahre die Politiker und die Parteien zur Verantwortung zu ziehen, wäre bei der Gesetzgebung durch Volksentscheide eingeschränkt. Damit würde insgesamt eine Abwertung des Parlaments einhergehen, und es würde zu einem weiteren Bedeutungsverlust beitragen, der bereits durch die Normenflut der europäischen Institutionen und die unsägliche Neigung, politisch brisante Debatten mehr in Talkshows als im Parlament auszutragen, eingetreten ist.

Fünftens. Letztlich wäre die föderale Grundstruktur unseres Staates tangiert, weil die in Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes garantierte grundsätzliche Beteiligung der Länder an der Gesetzgebung nicht mehr gewährleistet wäre. Eine Konkurrenzvorlage durch den Bundesrat sehen die Gesetzentwürfe nämlich nicht vor. Für unsere Fraktion sind damit die Gründe für eine Ablehnung im Wesentlichen die gleichen, die ich Ihnen anlässlich der ersten Lesung der vorliegenden Gesetzentwürfe bereits genannt habe.
Schauen wir uns aber noch einmal die Hauptargumente der Entwurfsverfasser an! Die Entwurfsverfasser behaupten immer wieder, durch die Möglichkeit von Plebisziten auf Bundesebene könne man der Politikverdrossenheit und dem Verlust des Vertrauens in die Politiker entgegenwirken. Den Gegnern von Plebisziten wird vorgeworfen, sie würden das Wahlvolk für dumm halten und kein Vertrauen in dessen Entscheidungskompetenz haben. Beides, Herr Wieland, ist nachweislich falsch und nichts anderes als plumpe Stimmungsmache und purer Populismus.
Was das Thema Politikverdrossenheit anbelangt, hat in diesem Zusammenhang der Regierende Bürgermeister von Berlin seinen eigenen Beitrag geleistet, indem er im letzten Jahr vor der Abstimmung verkündete, dass der Berliner Senat unabhängig von der Entscheidung des Volkes über Tempelhof den City-Airport schließen werde.
Neue Argumente sind nicht ersichtlich, auch nicht durch Herrn Wieland. Deshalb hat sich an meinem Fazit von vor drei Jahren nichts geändert. Ich fasse zusammen: Schon die Ergänzung unserer repräsentativen Demokratie um plebiszitäre Elemente auf Bundesebene würde die Wesenszüge unserer Demokratie verändern.

Ich kann deshalb nur raten:
Erstens. Unterschätzen wir nicht die Gefahr des Populismus, die in Plebisziten steckt!
Zweitens. Geringschätzen wir nicht unsere geschichtlichen Erfahrungen damit!
Drittens. Überschätzen wir nicht deren Bedeutung im Kampf gegen Politikverdrossenheit!
Deshalb plädiere ich dafür, unser ausgewogenes parlamentarisches Verfahren und unseren starken Föderalismus wertzuschätzen. Unsere Bundestagsfraktion lehnt daher alle vorliegenden Gesetzentwürfe ab.

Ehrlich gesagt fiel es mir schwer zu entscheiden, welche Passagen ich nun weg lassen soll, weil ich das Gesagte für wichtig erachte, um sich über „unseren Volksvertreter“ eine Meinung bilden zu können.

Gisela Piltz FDP (Ab Seite 23574)

Herr Kollege Wellenreuther, man kann zu allem verschiedene Ansichten haben, aber das als primitives Verfahren zu bezeichnen…

(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Im Sinne von einfach! –
Gegenruf des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie nicht gesagt!)

…finde ich sehr mutig. Bei Ihnen in Baden-Württemberg, glaube ich, gibt es etwas Analoges, nämlich Kumulieren und Panaschieren. Das wäre dann ein weitaus primitiveres Verfahren.
Mal ganz ehrlich: Ob man bei einer Sachfrage mit Ja oder Nein entscheidet oder alle vier Jahre bei der Bundestagswahl ein Kreuz bei einer Partei macht – beides ist ähnlich einfach, um bei Ihrer Wortwahl zu bleiben. Von daher finde ich: Wie Sie sich hier dazu geäußert haben, ist dem Thema nicht angemessen

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grosse-Brömer?

Gisela Piltz (FDP): Ja, wenn er Spaß daran hat.

Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU):
Frau Kollegin Piltz, ich habe natürlich gehofft, dass meine Zwischenfrage auch Ihnen Spaß macht; sonst hätte ich mich gar nicht gemeldet. Weil Sie fordern, zu ganz wichtigen Themen auch das Volk zu befragen, möchte ich Sie fragen: Geben Sie mir in der Retrospektive recht, dass, wenn man damals die Bevölkerung gefragt hätte, überaus wichtige Entscheidungen – ich nenne beispielhaft die Wiederbewaffnung der Bundeswehr oder den NATO-Doppelbeschluss –, die sich im Nachhinein geschichtlich als besonders bedeutsam erwiesen haben und gravierend positive Auswirkungen für unser Land hatten, von einer Mehrheit von bis zu 70 oder 80 Prozent abgelehnt worden wären, was letztendlich katastrophale Auswirkungen auf die deutsche Geschichte gehabt hätte?

Gisela Piltz (FDP):
Herr Grosse-Brömer, ich habe so etwas geahnt; deswegen macht mir Ihre Frage keinen Spaß. Erstens unterstellen Sie, dass das Volk dümmer ist als wir.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Nein!)

Gisela Piltz (FDP)
Zweitens gehen Sie davon aus, dass wichtige Entscheidungen nur vom Parlament getroffen werden können.
Drittens behaupten Sie, dass Sie genau wissen, welche Entscheidungen man dem Volk überlassen kann und welche nicht. Das alles halte ich für falsch. Hinterher ist man immer klüger; das ist sicherlich so. Demokratie ist nicht einfach. Wer Angst davor hat, dem Volk etwas zu erklären, und sich vor einer Entscheidung fürchtet, der muss sich gut überlegen, ob er hier richtig ist.

Michael Hartmann (Wackernheim) SPD (Ab Seite 23576)

Wenn es darum geht, die Stärkung plebiszitärer Elemente abzulehnen, werden alle apokalyptischen Reiter in die Schlacht geführt: die Manipulationsfähigkeit des Volkes, die Komplexität der Themen, das Ausgeliefertsein gegenüber Populisten. Mit dieser Argumentation können Sie Demokratie generell infrage stellen. Ich frage leise und selbstkritisch, an unsere eigene Adresse gerichtet: Durchschauen wir immer alles, worüber wir zu entscheiden haben, bis ins Detail? Ich will das Wort Finanzmarktkrise nur in einer Fußnote vermerken. Sind nicht auch wir Manipulationsversuchen ausgesetzt? Entscheiden wir nach politisch aufgeladenen Diskussionen wirklich immer nur nach sachlichen Kriterien? Spielen nicht viele andere Erwägungen dabei auch eine Rolle? Wer dieses Argument ins Feld führt und mit dem Finger auf andere zeigt, der muss daran denken, dass drei Finger auf ihn selbst zeigen.

So viel Selbstreflektion hätte ich einem Politiker nicht zugetraut!

Es bleibt dabei – das ist bei Sozialdemokraten nun einmal so –: Wir werden weiterhin beharrlich an diesem Thema arbeiten. Es wird weder bei uns noch bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, von der Tagesordnung zu nehmen sein. Wir halten es da ja mit zwei Kanzlern.

(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Sie wollen ja eine neue Verfassung!)

Der eine Kanzler hat gesagt: Mehr Demokratie wagen. Er hatte recht; das war Willy Brandt.
Die Kanzlerin hat gesagt: Mehr Freiheit wagen. – Wir wollen mehr Freiheit für jene, von denen alle Staatsgewalt ausgeht: für das Volk. Vielen Dank.

Fazit
Ich befürchte, das es noch lange dauern wird, bis wir mit der Umsetzung einer – zumindest teilweise – direkten Demokratie rechnen können. Ich kann mir derzeit bei keiner Partei vorstellen, das diese in einer Regierungsverantwortung eine Grundgesetzänderung durchführen wollen und wenn doch, eine entsprechende Mehrheit erhalten werden.

Link
Plenarprotokoll zu Reden über Volksinitiativen-, begehren- und sicherheit
Wowereit erklärt Volksentscheid für irrelevant
FemokratieBlog: Innenausschuss lehnt Oppositionsentwürfe zu Plebisziten ab

1 Kommentare.

  1. Hallo ChrisTine,

    vielen Dank für diese ausführliche Berichterstattung Deine Interpretationen.

    Darf ich das noch hiermit ergänzen?

    http://de.wikipedia.org/wiki/Sozialcharakter

    Er scheint fast zeitlos – für mich auf jeden Fall ein Klassiker – weiser „alter“ Mann.

    Erich Fromm über den angepaßten Menschen

    http://www.youtube.com/watch?v=Dt09hfllNc8